Vogel mit Wurm

Bericht zur Beiratssitzung am 27.04.23 zur aktuellen Situation auf der Lucie

Forderungen zur Bürgerschaftswahl an alle politische Parteien

Die Suchtszene auf und um die Lucie herum hat sich in den letzten Wochen verändert. Neben Alkohol wird auch zunehmend Crack konsumiert und der Platz wird leider von der Drogenszene oft dominiert. Der Aufenthalt auf dem Platz für Anwohner*innen oder uns Gärtner*innen ist dadurch unangenehm und die Angebote der Umweltbildung für Kinder und Jugendliche wird sehr herausgefordert.
Wir möchten mit euch einmal ausführlich unseren aktuellen Kenntnisstand teilen und auch, welche Lösungen es aus unserer Sicht geben könnte, um die Situation zu entspannen.

Nach zahlreichen informellen Vorgesprächen befasste sich am Donnerstag, 27.04.23 die Neustädter Beiratssitzung mit der aktuellen Situation der sich verändernden Drogenszene auf dem Lucie-Flechtmann-Platz. Neben den Beiratsmitgliedern von SPD, Grünen, Linke, FDP und CDU und ca. 30 Anwohner*innen waren zudem noch anwesend:

Jörg Utschakowski und Eva Carneiro Alves (Referent*innen bei der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz, beide Abteilung Psychiatrie und Sucht), Petra Kodré (Abteilungsleiterin Soziales bei der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport ), die neue Bereichsleiterin der Inneren Mission Eileen Bumann und Christian Claus (Streetworker u.a. für die Szene auf der Lucie, auch Innere Mission) und zwei Beamte der Polizei (einer davon Wolfram Franke, Kontaktpolizist in der Neustadt).

Zu Beginn wurde sich viel Zeit genommen, um von allen Seiten Erfahrungsberichte einzuholen: Von uns Lucies und anderen Anwohner*innen, von Christian Claus und der Polizei. Ergebnis: Alle berichteten Ähnliches. Eine verschärfte und eskalierende Situation insgesamt; die Szene auf der Lucie sei sehr stark gewachsen, mehr Menschen, die vorher am Bahnhof anzutreffen waren, aber auch insgesamt viele Neue. Die Szene auf dem Platz verändere sich gerade weg von Alkohol hin zu härteren Drogen, vor allem Crack-Konsum und Mix-Konsum. Szene-interne Konflikte würden auf dem Platz ausgetragen. Der Container, der als Szenetreffpunkt zwischen Lucie und Westerstraße aufgestellt ist, reiche räumlich bei Weitem nicht aus, weswegen sich immer wieder Gruppen von Konsumierenden auf die Lucie verteilen. Dies mache den Aufenthalt von anderen, z.B. auch Kindern, kaum mehr möglich.

Frau Bumann und Christian Claus betonten vor allem nochmal, dass nicht nur die Stunden von Christian Claus – bisher nur 19,5 Wochenstunden, wovon noch nicht mal alle für die Lucie vorgesehen sind – bei Weitem nicht ausreichen würden, sondern dass die Situation, wie sie sich gerade darstelle, überhaupt keine Streetwork im Sinne von Beziehungsarbeit, mehr ermögliche. Die Arbeit mit Crack-Konsumierenden bringe Anforderungen und Schwierigkeiten mit sich, die mit Streetwork allein überhaupt nicht beantwortet werden könnten.

Die Behördenvertreter*innen von Gesundheit und Soziales erklärten den Hintergrund der Maßnahmen am Hauptbahnhof: Eine verstärkte Polizeipräsenz, deren Folge war, dass die Suchtkranken in die umliegenden Stadtteile ausweichen, u.a. auf den Lucie-Flechtmann-Platz. Dieses Vorgehen sei laut Gesundheit und Soziales nicht mit der Idee veranlasst worden, den Hauptbahnhof “einfach nur aufzuräumen”, sondern als notwendige Reaktion, weil sich die Gesamtsituation am Bahnhof selbst auch sehr verschlimmert hätte. Also auch dort: viel mehr Konsumierende insgesamt, viel mehr härtere Drogen, vor allem Crack (was sehr schnell extrem abhängig mache, viel günstiger sei als z.B. Alkohol, weswegen so viele da hinein rutschen würden) und damit zusammenhängende Schwierigkeiten (mehr Kriminalität durch den extrem höheren Beschaffungsdruck, mehr Eskalation und Gewalt durch den extrem hohen Schlafentzug, der u.a. auch bei Crack sehr stark sei). Der daraufhin geschaffene Konsumraum auf der Nordseite des Bahnhofs sei (entgegen der Stimmen, dass der Raum nicht gut angenommen werde) immer überfüllt und reiche bei den steigenden Zahlen bei Weitem nicht aus. Die „Dezentralisierungspolitik“ am Bahnhof sei daher schlicht notwendig gewesen, um die Situation dort zu entschärfen.

Die Beamten der Polizei berichteten zudem, dass sich die wachsende Szene nicht nur aus der vorherigen Bahnhofsszene speise, sondern u.a. auch aus der Party-Szene und dass auch aus der breiten Gesellschaft einfach immer mehr Menschen dazukämen. Zudem werde aus anderen Stadtteilen Ähnliches berichtet.

Was stehen geblieben ist:

Alle waren sich darüber einig, dass es direkte Handlungen braucht; dass es weitere Folgetreffen geben soll; dass dies nicht nur in der Neustadt Thema ist, sondern auch in den anderen Stadtteilen; dass es mehr Geld braucht, um überhaupt mehr Angebote schaffen zu können ( hier wurde vor allem an die Politik verwiesen, die hier im neuen Haushalt nach der Wahl dann auch nachliefern müsse); dass die Dringlichkeit bei allen angekommen sei und auch in die verschiedenen anderen Ebenen getragen werden soll.

Konkret umgesetzt werden soll (in dem Wissen, dass das die Probleme zwar nicht allein lösen könne, aber als ersten Schritt):

Die Stelle des Streetworkers (bisher nur 19,5 Stunden) soll zeitnah auf eine ganze Stelle erweitert werden, ggf. sogar eine zweite Stelle geschaffen werden (um damit auch die Arbeit im Team zu ermöglichen und damit die Sicherheit der Streetworker zu gewährleisten).

Offen geblieben ist:

Wie Konzepte in den Stadtteilen genau aussehen könnten: braucht es weitere Konsumräume in den Stadtteilen? Wie kann eine Betreuung und Finanzierung aussehen? Was gibt es für Konzepte aus anderen Großstädten, die mehr Erfahrung mit härteren Drogenszenen haben?

Unsere Stellungnahme

Wenngleich wir aus dem Treffen mit dem Gefühl hinausgehen, dass das Ausmaß und die Drastik der Situation aufgenommen und verstanden wurde und wir hoffen, dass diesem Treffen nun auch die vereinbarten Handlungen und weitere Konzepte folgen werden, so bleibt für uns doch nicht ganz nachvollziehbar, dass es erst diesen Weckruf aus dem Stadtteil brauchte: Dezentralisierungsmaßnahmen der Bahnhofsszene als Reaktion auf die stark wachsende und sich verändernde Drogenszene hätten von Anfang an Konzepte für die Stadtteile beinhalten müssen. Dass sich zudem erst jetzt bemüht wird, Erfahrungsberichte aus anderen, größeren Städten, die mehr Erfahrung im Umgang mit „härteren Drogenszenen“ haben, einzuholen, kommt reichlich spät.

Wir hatten auf der Lucie bereits in den Jahren 2014-2016 sehr herausfordernde Zeiten mit dem Suchtklientel, wobei es da vornehmlich um Alkoholkonsum ging. Aus unserer Sicht war es damals wichtig, die Trinker-Szene nicht von dem Platz zu verdrängen, sondern ein geregeltes Miteinander zu entwickeln, auch wenn wir damals schon an unsere Grenzen gestoßen sind. Auf Anraten der damaligen Streetworkerin wurde ein durch Streetwork begleiteter Unterstand errichtet, der die Situation langfristig sehr entspannt hat. Durch den Unterstand haben die Suchtkranken ihren eigenen Bereich. Sie sind weniger auf den Platz ausgewichen, sodass dieser auch für andere Städter*innen wieder zu einem angenehmen Aufenthaltsort werden konnte. Der Ansatz wurde auch auf der Beiratssitzung einstimmig als erfolgreich gewertet.

Durch den Crack- und Misch-Konsum stellt sich heute aber eine andere Situation dar. Bezüglich der Crack-Szene haben wir von den Mitarbeiter:innen der Inneren Mission gelernt, das klassische Streetwork hier gar nicht greifen kann: Es braucht es ein ruhigeres Umfeld ohne Suchtdruck, sprich einen Konsumraum, um eine Beziehung zu den Suchtkranken aufbauen zu können und sie an Hilfsangebote zu vermitteln. Auf dem offenen Platz, während die Suchtkranken mit Beschaffung zu tun haben, ist klassische Streetwork nicht das richtige Angebot. Zudem sind die Suchtkranken immer da, wo auch ihr Dealer ist. Für die Trinker-Szene ist der Aldi neben dem Platz der Dealer – deswegen sind die Suchtkranken auch nicht mitumgezogen, als der Unterstand mal ein paar Wochen woanders stand. Wenn die Crack-Szene an andere Orte umziehen soll, muss den Süchtigen dort nicht nur der Konsum, sondern auch die Beschaffung ihrer Droge möglich sein, sonst wird der Ansatz nicht klappen.

Wenn am Hauptbahnhof die Suchtszene und die damit einhergehende Kriminalität zu groß geworden ist, ist es aus unserer Sicht weder eine Lösung, noch eine „notwendige Reaktion“, die Suchtkranken in die angrenzenden Stadtteile zu vertreiben, wo sie die Anwohner*innen verunsichern und soziale Projekte und Umweltbildungsarbeit gefährden.

Wir wünschen uns / Wir fordern…

Wir fordern daher von allen politischen Parteien, dass nach der Wahl im Rahmen der Haushaltsverhandlungen sowohl für die Neustadt als auch für alle weiteren betroffenen Stadtteile Konzepte budgetiert werden, die dezentrale Konsumräume sowie deren ausreichende Betreuung durch ausgebildetes Fachpersonal finanzieren. Die Verdrängungspolitik der Suchtszene vom Hauptbahnhof muss sofort aufhören und kann nicht weitergeführt werden, bis ein adäquater Umgang mit der ausweichenden Suchtszene in den anliegenden Wohnquartieren gefunden, finanziert und umgesetzt wurde!